E I N E   A U S W A H L   A N   T E X T E N


BLÄTTERN IM KOPFKISSENBUCH                                                   

Kann sein ein einzelnes Wort, Kopfkissenbuch.
Kann sein ein kurzer Satz, Was vom Himmel fällt.
Wort und Satz klingen an, irgendwo, setzen sich fest, erinnern sich selbst, bleiben bei mir, irgendwie.
Sie tun das selber, ich bin ihrer kaum bewusst, sie sind im inneren Irgendwo.
Nach unbestimmbarer Zeit kommt ihre Resonanz zum Schwingen, wecken sie Überlegungen, sind sie schliesslich bewusst. Was vom Himmel fällt sucht spielerisch Antwort und führt bald in suchende Gedanken, Antworten: Regen, Schnee, manchmal Hagel. Und weiter. Staub, Saharasand. Möglicherweise ein Flugzeug, wahrscheinlicher ein Deltaflieger. Nein, Staub nicht. Saharasand nicht, denn da ists Wind, nicht Himmel. Flugzeug nicht, denn dafür kann der Himmel nichts, und der Deltaflieger hat bloss Höhe, nicht Himmel.  - Gedankenkringel.
Manchmal ists genau zu bezeichnen, bald aber führts in abstrakte Welten. Glück? Fällt das vom Himmel? –

Eine Frau in Japan, eine Frau in der Schweiz. Sei Shonagon und ich. Eintausend Jahre, zwei Kontinente und ein Kaiserhof, eine unterschiedlich ausgerichtete Kultur und Philosophie liegen zwischen uns. Sei Shonagon schrieb ihr Kopfkissenbuch ab dem Jahr 996, mehr als eintausend Jahre sind zwischen uns.
Und doch, wenn wir, Sei und ich, uns in Schriftlichkeit gegenüberstehen, zeigt sich, dass wir ähnliche, ja vielfach gleiche Gedanken haben, von Gleichem sprechen, dass unsere Wünsche sich decken, unsere Ansichten sich ähneln, Beobachtungen sich entsprechen, trotz der eintausend Jahre seit ihrem Schreiben und jetzt meinem.

Ich liebe Listen. Sei Shonagon liebte sie auch. In meinen Gedichten finden sich einige, die sind eigentlich Aufzählungen. Sie leben, noch stärker als dies bei Gedichten generell der Fall ist, von der vom einzelnen Wort ausgehenden Assoziation, vom Mitschwingenden, von Assonanzen. Das Gedicht vollendet, oder rundet sich gewissermassen erst während des Lesens, im Kopf und der Empfindung des und der Lesenden.

Warten
Auf Bedienung im Café
Warten auf den nächsten Termin
Warten auf das sms
Auf den richtigen Moment
Warten bis das Konzert fertig ist
Warten bis Feierabend und
Auf das Kind, das sein Essen will
Warten bis du gehst
Warten bis du kommst         
Auf Post mit dem guten Bescheid
Warten bis es wärmer wird
Warten auf ein Glück
Auf den Schlaf
Warten bis das erledigt ist
Warten auf den Zug
Auf die Antwort
Warten auf Liebe
Auf die Flügel, die sie manchmal verschenkt
Warten bis die Welt vergessen geht
Warten wieder aufs Glück

An der Strasse nach Venedig
Ca’ Redenta
Ca’ Risorta
Ca’ Florida
Ca’ Speranza
Ca’ Favorita
Ca’ Feconda
Ca’ Fertile
Ca’ Romagna
Ca’ Rinascita
Ca’ Vittoria
Ca’ Imperia
Ca’ Sile
- von Venedig weg
- nach Venedig hin
Ca’ Sile
Ca’ Imperia
Ca’ Vittoria
Ca’ Rinascita
Ca’ Romagna
Ca’ Fertile
Ca’ Feconda
Ca’ Favorita
Ca’ Speranza
Ca’ Florida
Ca’ Risorta
Ca’ Redenta

Flughafengedicht
New York
Stockholm
Athen
Rom
Tel Aviv
Amsterdam
Dubai
London
Tunis
Wien
Madrid
Bangkok
Warschau
Reykjavik
Vancouver
Tallinn
Singapur
San Diego
Düsseldorf
Berlin

In Warten wird erst aufgezählt worauf gewartet werden muss, wobei das Repetitive das Gefühl der Stagnation, des Verhindert-Werdens verstärkt. Im Verlauf der Zeilen passiert eine leichte Drehung, und Warten bezeichnet eher das als fehlend Empfundene.
Ob An der Strasse nach Venedig das Drängende, Vorfreudige der Anreise anklingt, das Mühselige des Zurückreisens? Lesen wir Name um Name, den Klang geniessend oder springen wir, Tempo liebend, nach dem zweiten-dritten Namen zu den Mittelzeilen, die zweite Hälfte mehr schauend, denn lesend? Ob die klangvollen Namen die Schönheit der Palazzi evozieren, die Städtenamen im Flughafengedicht Klang und Resonanz, ein diffuses Vibrieren auslösen von Sehnen und Erinnern, Vergessen und Freiheit?
Reduktion auf einzeln hingesetzte Worte, wie die Lyrikerin Christine Busta schreibt: Entdeckung/Sag: Grasnarbe./Sag es langsam./Du sprichst ein vollkommenes Gedicht. Worte einzeln, oder geschichtet zu Listen. Listen öffnen, weil sie verschiedenste Dinge aufführen, ohne sich um Zusammenhang oder Einheitlichkeit zu kümmern. Bedeutungen springen, jedes Wort hat seine eigenen und seinen Radius an Assoziationen.

Listen ordnen, indem sie sammeln was sonst verstreut, verborgen und nicht miteinbezogen ist. Kartei, Kalender, Katalog, Lexika sind letztlich Listen, ordnend einerseits, öffnend nach Überall andrerseits.

Meine Begegnung mit Sei Shonagon geschah über die Listen. Ich glaube, es war mit Dinge, die sich nicht vergleichen lassen. Das war der Anfang, dieser herausfordernde Satz, den ich als eine Frage an mich ummünzte. Was würde ich aufführen unter Dinge, die sich nicht vergleichen lassen? Als Quellenangabe stand: aus Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon. Kopfkissenbuch, da, ein Wort, Klang und Assoziation, aufscheinende Bilder. Was wird einem Kopfkissenbuch anvertraut? Träume der Nacht, solche vom Tag? Ists ein Buch, darauf zu ruhen, ein Kissen, daraus zu lesen?
Sei Shonagon war Schriftstellerin und als solche am Kaiserhof in Kyoto als Hofdame bedienstet. Ihre Lebensdaten 966 bis 1025 fallen in die kulturelle Hochblüte der Heian-Zeit. Ihre Lyrik fand Eingang in die offiziellen Anthologien des Reiches, doch für ihren Nachruhm bis in die heutigen Tage ist ihr Kopfkissenbuch verantwortlich. Ungefähr dreihundert verschiedenlange Texte, entstanden wohl als einzelne lose Blätter, hat sie darin vereint, mit Berichten über das Leben am Kaiserhof einerseits, mit Ausführungen persönlicher Überlegungen und Ansichten andrerseits. Als dritte Art, und ebenso lose immer wieder eingestreut, die Auflistungen. Meist, eigentlich immer, beginnt sie diese Selbstbefragung mit: WAS. Was vom Himmel fällt. Was ich nicht gern habe. Was zu nichts zu gebrauchen ist. Was wunderbar ist.
Thematisch geordnet, jedoch inhaltlich absolut frei und assoziativ ausschweifend listet sie auf: Was Lärm macht. Was nahe, doch fern ist. Was fern, doch nah ist. Manchmal mit Witz und Schalk, dann wieder analytisch scharf, immer intellektuell versiert. Über das Verhältnis zwischen Mann und Frau lässt sie sich aus, benennt den Hochmut der Männer, geisselt, dass die Arbeit der Frauen nicht gewürdigt wird und legt dabei ein feministisches Denken und Fordern an den Tag, das absolut heutiges Format, leider immer noch heutigen Bedarf hat.
Religiöse wie politische Themen nimmt sie auf, psychologische wie soziale, führt aus, handelt ab, öffnet oder ordnet, antwortet im Affekt hier, mit intellektuellem Scharfsinn dort.
Sei Shonagons mit WAS beginnende Titel blieben auf die anfangs erwähnte Art bei mir. Von da an las ich vom Kopfkissenbuch nur noch das Inhaltsverzeichnis, auf der Suche nach den WAS Titeln. Erst nachdem ich meine Einfälle dazu gelistet hatte, schaute ich wieder, was bei Sei Shonagon stand. Durch meine frühere Kopfkissenbuchlektüre wusste ich über ihren Stil und entschied, ihn in gewissem Sinne beizubehalten. Die gedankliche und sprachliche Arbeit war und ist höchst faszinierend. Was nach spontanen Einfällen aussehen mag, entstand vielfach nach langer Suche nach dem exakt Gemeinten, mehrmaligem Verwerfen, neuem Einkreisen, Überprüfen. Was ich nicht mag kann nicht mit Krieg beantwortet werden. Nach dem Verb mögen ist das Wort Krieg absolut fehl, von grundsätzlich anderer Bedeutungs- und Kraftebene. Worte ähnlichen Inhalts, aber unterschiedlicher Graduierung, wie Wichtigtuer/Machthungriger sind versteckte Wiederholungen, meist überflüssig, manchmal aber nötig. Was nach spontanen Einfällen aussehen mag, geschah aber vielfach tatsächlich spontan und wurde mit einem Lächeln der Liste beigefügt.

Durch das Kopfkissenbuch und Sei Shonagon können wir ein Jahrtausend zurücklegen, vom einen zum andern Kontinent springen, durch Kulturen, Philosophien, selbst durch den Kaiserhof im japanischen Kyoto streifen und begegnen schlussendlich unsere hiesige, heutige, persönliche Gegenwart



ich bin
jemandes mutter jemandes frau jemandes geliebte jemandes lehrerin jemandes blume jemandes muse jemandes kind jemandes schwester

jemandes zuversicht jemandes gedanke jemandes unruhe jemandes enttäuschung jemandes hilfe jemandes engel jemandes liebe

jemand ist meine mutter jemand ist mein mann jemand ist mein geliebter jemand ist mein lehrer jemand ist meine rose jemand ist mein sohn jemand ist meine tochter jemand ist meine schwester jemand ist meine zuversicht jemand ist mein engel jemand ist meine liebe

jemand ist meine bandage jemand meine geschichte jemand meine last jemand meine flügel jemand meine energie jemand mein drang jemand meine rituale jemand meine lust

jemand braucht meinen körper jemand braucht meine liebe jemand braucht mein geld jemand braucht mein wissen jemand braucht mein lachen jemand meine zeit jemand mein reden jemand meine hände jemand braucht mich

jemandes lachen brauche ich jemandes zureden brauche ich jemandes lektionen brauche ich jemandes körper jemandes fordern jemandes geduld jemandes liebe

hommage an india arie



nicht schreiben
es sei nicht über alles zu schreiben, nicht über alles was in einem sei
manches sei zu belassen im dunkel, bloss mitzunehmen in sich*
nicht ans licht lassen, weil es nicht ans lich kann, vielleicht auch nicht will
zu diffus, zu ungreifbar, nicht verwandelbar in materie, die berührung zulässt
entziehen dem zugriff eben, dem dunkel lassen
mit sich nehmen loss



In Wien
klingeln die Handys mit Mozarts <alla turca>,
klingeln sie mit Beethovens <Für Elise>.
Die Türken vor Wien und Elise als die Mona Lisa der Musik.
<Für Elise>, was aus all den Klavierstunden der Jugendjahre jeweils noch bleibt,
drei e, zwei dis am Anfang, schön im Wechsel e dis e dis e,
danach weiss jeder was kommt:
56 e, 11 dis, 28 a, 17 c, 6 gis, 1-2 andere noch: <Für Elise>.
Beim Doppelstrich in der zweiten Zeile geht auch der Klingelton in die Repetitionsschlaufe.
Beethoven, Mozart und a-moll muss es sein,
keiner lässt sich rufen mit Schönbergs <Verklärte Nacht>,
auch in Wien nicht,
mit Elise schon und alla turca.

(Aufgenommen in der Anthologie 'Ausgewählte Werke 2016' der Bibliothek deutsprachiger Gedichte)




Div. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (Dichter Innenteil Augustin, Wien u.a.), in Anthologien der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte, der Lyrikanthologie 'Melancholie' des Aurora Verlages und der Lyrikanthologie der Brentano Gesellschaft, Frankfurt.